1977 hatten einige revolutionäre Linke in Zürich die kuriose Idee, einen eigenen Fussballverband zu gründen. Wenn sich ihre Ideale schon nicht im Politischen verwirklichen liessen, so vielleicht auf dem Fussballplatz. Ein Blick von Christoph Kohler auf die Geschichte der ältesten alternativen Fussballliga im deutschsprachigen Raum.
Zur „Austragung eines Freundschaftsspieles“ (Bewilligung Nr. 690 des Sportamts der Stadt Zürich) trafen sich am 8. Juni 1975 der FC Oeconomiestudenten und der FC Arbeitsgruppe Umwelt auf dem Sportplatz Juchhof in Zürich. In Tat und Wahrheit kickte an diesem Tag jedoch nicht die akademische Jugend, sondern einige linksradikale Idealisten. Für den FC Bakunin stürmten Anarchisten wie Giorgio Bellini – ein führendes Mitglied des Tessiner MGP (Movimento giovanile progressista). 1981 sass er nach dem Bombenattentat auf Radio Freies Europa in München für mehrere Monate in Untersuchungshaft.
Mit von der Partie war auch Antonio Ferrari – der Wirt im linken Szenetreffpunkt Cooperativo. Auf der anderen Seite formierte sich der FC Soldatenkomitee, der sich aus Armeegegnern rekrutierte und angeführt wurde vom heutigen Diskounternehmer und damaligen Agitator der RAZ (Revolutionäre Aufbauorganisation Zürich), Koni Frei. Die Anarchisten unterlagen (wohl wegen mangelnder Organisation) 3 zu 5.
Aus diesem spontan organisierten Spiel erwuchs im folgenden Jahr die Idee, eine Fussballmeisterschaft unter der ausserparlamentarischen Linken zu veranstalten. Einerseits spielten einige Linke gerne Fussball, obschon das damals verpönt war. Andererseits hegte vor allem Bellini die Hoffnung, die zersplitterte Linke in Zürich wenn schon nicht an einen Tisch, so doch wenigstens auf dem Fussballplatz zusammen zu bringen. Anmelden konnten sich Interessierte bis Ende März beim Buchladen Eco Libro. Buchhändler dort war Giorgio Bellini.
Im Oktober 1976 erliess der Zürcher Stadtrat die bis heute gültige Verordnung, nach der nur Sportvereine mit mindestens 20 Mitgliedern städtische Sportplätze mieten können. Es blieb den linken Kickern also nichts anderes übrig, als für die Saison 1977 einen ordentlichen Verein zu gründen – die Geburtsstunde des FSFV (Fortschrittlicher Schweizerischer Fussball Verband). Diese offizielle Gründung macht den FSFV zum ältesten alternativen Fussballverband im deutschsprachigen Raum. (Die wilde Liga in Bielefeld besteht wie diejenige in Zürich seit 1976, hat sich jedoch nie als Verein gegründet.) Soviel Linke auf einem Haufen? Das war offensichtlich auch dem Sportamt der Stadt Zürich verdächtig. Nach dem Schweizer Fichenskandal 1990 recherchierte der ehemalige Ligapräsident Ruedi Enderli im Bundesarchiv in Bern. Ergebnis: Sämtliche Linke in der an das Sportamt verschickten Mitgliederkartei des FSFV haben einen Eintrag in ihrer Staatsschutzakte: „Von Stadtpolizei Zürich, 7.7.1977: Fig. auf der Mitgliederkartei des FSFV.“ Offensichtlich hatte das Sportamt die Mitgliederliste schnurstracks an die Stadtpolizei weitergeleitet, die damals die Zürcher Linke für den Staatsschutz ausspionierte. Über die offizielle Gründung des FSFV notierten die Schnüffler: „Seit Herbst 75 spielen einige Linksgruppen gegeneinander Fussball. Nachdem sie das Sportamt Zürich um Zuteilung eines Sportplatzes ersucht hatten, wurden sie aufgefordert, Statuten und Mitgliederlisten einzusenden. Mit 2 Ausnahmen alles bekannte Links-Aktivisten. Als Präsident wird Enderli Rudolf 44, als weiteres Vorstandsmitglied Waeschle Robert 49 angegeben. Nach den Namen der Gruppen zu schliessen (Abbruch, Bakunin, Focus, Soldatenkomitee, Telefonzitig usw), ist in diesem FSFV die gesamte Neue Linke vertreten.“ (BA Akte 031/416) Heute entschuldigt sich der Chef des Sportamts Ernst Hänni in aller Form für diese Indiskretion. Zum 25jährigen Geburtstag „schenkte“ das Sportamt dem FSFV das Letzigrundstadion zur Austragung der Finalspiele. Fortschrittlicher Fussball „Fortschrittlich“ am FSFV war jedoch nicht nur der politische Hintergrund der Spieler. Vielmehr sollten die linken Ideale gleichsam vom Politpodium auf den Fussballplatz transportiert werden. So stellte der FSFV dem „rückschrittlichen“ offiziellen Fussballverband SFV (Schweizerischer Fussball Verband) 1977 ein „fortschrittliches“ Regelwerk entgegen. Schiedsrichter, Ranglisten, einheitliche Trikots, ja selbst die Fussballschuhe wurden abgeschafft. Von einer „echten Sensation von eminenter politischer und sporthistorischer Bedeutung“ schrieb der Zeitdienst für unabhängige sozialistische Information 1977: „Im FSFV gilt ab sofort das Streikrecht! Hat ein Spieler das Gefühl, es werde nicht sportlich gespielt oder die Fairness werde einem ‚Sieg um jeden Preis‘ geopfert, kann er eine Unterbrechung des Spiels und Diskussion verlangen.“ Zudem war Fussball im FSFV nicht mehr reine Männersache. 1980 waren von 150 Mitgliedern der Alternativliga deren 30 Frauen. Damit sollte im FSFV eine weiterer fortschrittlicher Gedanke auf dem Rasen umgesetzt werden: die Gleichberechtigung der Frau. Frau Kicker – Vom Kochherd auf den Fussballplatz Am Beispiel der Frauenintegration lässt sich das Scheitern der Versuche, linke Ideale auf dem Fussballfeld zu verwirklichen, vielleicht am besten aufzeigen. Von Anbeginn zeigte sich, dass Ehrgeiz und Siegeswille wohl weniger Symptome des kapitalistischen Unterbaus, sondern dem Fussballspiel immanent waren. Auf dem Fussballplatz führte das zwangsläufig zu Komplikationen zwischen menschlichem Ehrgeiz und politischem Ideal. Von einem „frauenfeindlichen“ Mittelstürmer berichtete der Zeitdienst 1978: „Nachdem sich das Skore seiner Mannschaft hartnäckig bei Null hielt, derweil das eigene Netz immer wieder von gegnerischen Torschüssen erschüttert wurde, nahm sich besagter Mittelstürmer und designierter Goalgetter ein Herz und bemerkte, die Pleite im eigenen Strafraum sei wohl darauf zurückzuführen, dass doch vielleicht und unter Umständen zumindest zeitweise allfällig etwas allzu viele Frauen im Einsatz ständen.“ Immer seltener kamen die physisch unterlegenen Frauen zum Einsatz. Gegen diese Verdrängungserscheinungen wandte sich Ligapräsident Ruedi Enderli 1979 in einem eindringlichen Brief: „Die längerfristige Entwicklung ist zu bedauern, indem damit natürlich die Konkurrenz gross geschrieben, der Erfolg das wichtigste wird und der Plausch zur Nebensache absackt. Hoffentlich kann das Ruder herumgeworfen werden.“ Vergeblich. Enttäuscht von den „fortschrittlichen“ Männer gründeten 1980 einige Frauen ihre eigene Frauschaft namens Mama Zurigo. Sie existierte eine Saison. Danach schien die Zeit der Frauen in der Alternativliga vorbei zu sein. Bis fast zwanzig Jahre später einige Frauen die Lust verspürten, nicht nur ihren Mackern auf dem Fussballplatz zuzuschauen, sondern selbst dem runden Leder nachzurennen. Und wie! Fast jede Frauschaft beschäftigt heute einen – notabene männlichen – Trainer, so dass die Leistungskurve bei den Fussballerinnen deutlich nach oben zeigt. Kurz: Trotz fehlender Frauenbewegung bewegen sich die Frauen heute mit dem Ball sehr viel gekonnter als damals. Überhaupt hat sich die Alternativliga im Gleichschritt mit den gesellschaftlichen Veränderungen entpolitisiert. Von den acht Gründermannschaften spielt einzig noch die Rotwy Fahne – bezeichnenderweise in der Seniorenliga. Dafür treten immer häufiger Szeneklubs und Trendbars wie das Kaufleuten oder das Acapulco als Sponsoren von Mannschaften auf. 1991 wurde mit wenigen Ausnahmen wie das fliegende Wechseln der Spieler das offizielle Regelwerk des SFV (Schweizerischer Fussball Verband) übernommen und von einem Schiedsrichter durchgesetzt. Gekickt wird heute mit Fussballschuhen und meist auch mit Schienbeinschonern, weil Ideale halt nicht vor blauen Flecken schützen. Und wenn dann noch eine Mannschaft in Nike-Trikots auf den Rasen rennt, dann sitzt der Gram bei einigen Gründungsvätern tief. Dagegen zeigt der Boom der Liga, dass die Entpolitisierung einer Öffnung gegenüber anderen sozialen Gruppen gleichkam. Mit 42 Mannschaften und über 650 Mitgliedern kicken heute mehr Menschen denn je in der Alternativliga. Fragt man freilich, was denn „fortschrittlich“ sei am „Fortschrittlichen Schweizerischen Fussball Verband“, so geht das grosse Stottern los. — Christoph Kohler ist Historiker, Autor des Dokfilms «Ein Tor für die Revolution» (2004, SRF/400asa) sowie Ex-Mittelfeldspieler von Aurora. — Seit neustem gibt es ein FSFV-Archiv mit allen Resultaten: https://furttals-finest.com/fsfvarch.php